Otis

Er nahm den karierten Morgenmantel vom Haken an der Schlafzimmertür und zog ihn über. Die spärlichen Haare über seiner schmalen Stirn waren verstrubbelt. Seine Füße steckten in warmen Lammfellpantoffeln.

Eine Hand am Geländer, stieg Otis die unebenen Steinstufen hinunter. Noch immer war er nicht richtig wach.
Er brauchte Kaffee, viel Kaffee. Und ein umfangreiches Frühstück.

Eier, Speck, gebratene Tomaten und Champignons – das ganze Drum und Dran sollte es heute sein.

Er hatte es sich verdient. So viel erotischer Exzess machte ihn immer hungrig. Die ganze Nacht hatte es diesmal gedauert. Es war nach vier gewesen, als er endlich in den Schlaf gefallen war. Aber es hatte sich gelohnt. Noch ein Kapitel und er würde das Manuskript seinem Lektor schicken können. Der gierte schon danach – aus überwiegend kommerziellen Gründen.

Otis öffnete die Tür zur Wohnküche. „Tut mir leid, meine Lieben. Ist mal wieder spät geworden.“ Er zog das Tischtuch vom Käfig.

Vor seiner Pensionierung vor einiger Zeit hatte auch für Melody und Harmony jeder Tag auf die Minute pünktlich begonnen. Zumindest während der Woche, wenn Otis um acht Uhr vierzig ins Auto gestiegen war, um in die Kreisverwaltung zu fahren.

Die beiden zitronengelben Kanarienvögel saßen aufgeplustert auf ihren Stangen und sahen ihn an.
„Ein herrlicher Morgen, scheint mir. Auch wenn streng genommen bereits fast Mittag ist.“ Während die Kaffeemaschine brodelte, füllte er Futter in die Näpfe und wusch den Wasserbehälter aus.

Otis steckte zwei Brotscheiben in den Toaster. „Ich will nachher einen ordentlichen Marsch unternehmen. Wird mir guttun.“

Er legte zwei Scheiben Frühstücksspeck in die Pfanne, ganz an den Rand. So hatte Marjorie es immer gemacht, und er hielt sich daran, würde sich immer daran halten. Eins der kleinen Alltagsrituale, durch die er sich auch drei Jahre nach ihrem Tod noch mit ihr verbunden fühlte. Sie hätte gelacht, aber ihm hatte es besonders in der ersten Zeit ein wenig über den Kummer hinweggeholfen.

Ein Schluck Kaffee. „Aah, nun kann der Tag beginnen!“ Die Vögel knispelten ihre Körner.

Während Otis sein herzhaftes Frühstück mit Genuss verzehrte, hüpften sie von Stange zu Stange, sehr munter auch ohne Kaffee, und antworteten immer wieder auf sein Pfeifen. Ja, er würde gleich nach dem Bad einen Spaziergang hinauf in die Hügel machen.

„Frühlingslüfte, Frühlingsdüfte“, murmelte er versuchsweise, als er das Geschirr in die Spülmaschine stellte. Doch auch heute kam kein Echo. Er sollte diese Versuche aufgeben.

Seine Tage als Lyriker seien möglicherweise vorbei, hatte die Gruppe ja gemeint, als nach Marjories Tod seine Lyrik-Muse verstummt war. Doch ab und zu versuchte er es, gab ihr die Gelegenheit, ihn wieder zu inspirieren.

Dagegen küsste ihn die Muse für erotische Frauenromane – sollte es dafür eine Muse geben –, wann immer er es wollte. Es war äußerst kurios.

Er öffnete zum Lüften das Küchenfenster und sah hinaus. Der königsblaue Kleinbus voller Touristen näherte sich, verlangsamte seine Fahrt zum Schritttempo.

Otis beugte sich aus dem Fenster und winkte. Der Bus hielt. Japanische Kameras klickten. Gut, dass er sich wenigstens gekämmt hatte, ehe er heruntergekommen war! Manchmal vergaß er das, obwohl Marjorie es auch am Wochenende gern gesehen hatte, wenn er sich zumindest frisiert an den Frühstückstisch gesetzt hatte.
Und rasiert. Und jetzt würde er bald mit Bartschatten in japanischen Fotoalben kleben.
Na ja. Es gab Schlimmeres.

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Der Auszug stammt aus diesem Roman.

Über Gesine Schulz

Schriftstellerin / Writer
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